Und statt oder. Dank Reformation.
An kulturellen Verstehensbarrieren zeigt sich manchmal ganz überraschend der Kern einer Sache. So berichtet die Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, von ihrer Reise nach Hongkong, dass man dort wenig Verständnis dafür aufbringe, wie Martin Luther „abgründig und großartig zugleich sein kann, Sünder und Gerechter in einem“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 250, 30./31. Oktober/1. November 2017, S. 6).
Womöglich bezeichnet `Und statt Oder´ ein Herzstück reformatorischer Theologie: Die Befreiung von falschen Alternativen. Dass höchst Gegensätzliches zugleich („simul“) zutrifft - wie zum Beispiel Sündersein bei gleichzeitigem Gerechtfertigtsein - formulierte Luther erstmals 1514/15 in seiner Vorlesung zum Römerbrief. Fünf Jahre später charakterisiert er den Christenmenschen als zugleich „freien Herr“, der niemandem untertan sei und „dienstbaren Knecht“, der jedermann untertan sei. Seither gilt solche Dialektik nicht nur für die nachträgliche Bewertung einer historischen Gestalt wie Martin Luther selbst, sondern reformatorisch ganz grundsätzlich für das wechselseitige Verhältnis von Mensch, Gott und Welt. So wäre auch Glaube nicht das Gegenteil von Unglaube, sondern bloß dessen jeweils aktuelle Überwindung; Heiliges und Profanes gingen ständig ineinander über und Kirche und Welt durchdrängen sich wechselseitig. Stadtpastor Johannes Ahrens, Flensburg |